Entstehungsgeschichte

-> Münster - eine Fahrradstadt

Von Wolfgang Wiemers
Sprecher der Umweltverbände Münster
Ratsmitglied und Mitglied im Planungsausschuss der Stadt Münster,
1994-1999, wiemersw@web.de

Münster - eine Fahrradstadt
Münster, 280.000 Einwohner, ist Verwaltungs- und Wirtschaftszentrum einer überwiegend ländlichen Gegend. Die Stadt beherbergt eine der größten deutschen Universitäten und besitzt aktive Umweltgruppen. Womöglich wegen der Nähe zu den Niederlanden und der flachen Landschaft ist sie eine Fahrradstadt. Seit Jahren verfolgt sie eine innovative Fahrradpolitik, was zu ihrer Bezeichnung als "Fahrradhauptstadt Deutschland" führte. Der Verkehr besteht seit Jahrzehnten zu 40% aus Auto-, 35% Fahrrad-, 11% öffentlichem Nahverkehr und 14% aus Fußgängern. Die politische Mehrheit wird nahezu ununterbrochen von der CDU gestellt, ausgenommen die Wahlperiode von 1994-1999, als Sozialdemokraten und Grüne eine Koalition bildeten.

Die Beteiligung des Autors
Der Autor dieses Beitrages ist seit 1990 in verschiedenen Umweltgruppen aktiv. Er befasst sich hauptsächlich mit Fragen von Energie und Verkehr, städtischer Umweltpolitik und Zusammenarbeit der Organisationen. 1994-1999 war er für die Grünen im Stadtrat und Mitglied im Planungsausschuß, daher an den Planungen beteiligt. Er ist zur Zeit Vorsitzender des Münsteraner Umweltforums, das die Aktivitäten von 16 Umweltgruppen koordiniert. In diesem Beitrag möchte er zeigen, dass verschiedene Faktoren zusammenkommen müssen, um ein solch ehrgeiziges Projekt wie eine autofreie Siedlung zu verwirklichen, und dass langfristiger Einsatz nötig ist, um es dauerhaft zu sichern.

Initiativen aus der Umweltbewegung
1993 machten die Verkehrsverbände im Umweltforum Münster, zusammen mit den Grünen, einen ersten Vorstoß für eine autofreie Siedlung. Alle Ratsparteien zeigten zwar wohlwollendes Interesse, aber erst nach den Kommunalwahlen 1994 griff die neue rot-grüne Mehrheit die Idee konkret auf. Die Gelegenheit war günstig, verschiedene Konversionsflächen wurden frei und auf dem Hintergrund eines erheblichen Wohnungsdefizits mehrere neue Wohngebiete geplant. So beteiligte sich die Stadt Ende 1996 am Wettbewerb "Wohnen ohne eigenes Auto", der inzwischen ebenfalls rot-grünen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und erhielt den Zuschlag.

Kooperative Planung
Ausschlaggebend für die Wahl Münsters waren neben den Rahmenbedingungen des Standorts und der kurzfristigen Verfügbarkeit der Fläche ein interessierter Eigentümer und ein kompetenter und engagierter Investor, die in Zusammenarbeit mit der Stadt eine schnelle Realisierung versprachen. Das ehemalige Kasernengelände von ca 4 Hektar liegt am Rande der südlichen Innenstadt, inmitten von Wohnquartieren mit aller notwendigen Infrastruktur, bis zum Hauptbahnhof oder zur Altstadt braucht man etwa 10 Minuten mit Bus oder Fahrrad. Die Johanniter-Unfall-Hilfe (JUH) als Eigentümer nutzte die vorhandenen Gebäude bereits für Verwaltung, Rettungsstation und eine Zivildienstschule, wollte seine Einrichtungen durch ein Seniorenstift erweitern und auf dem freien Gelände Wohnbebauung zu realisieren. Die Wohnungsgesellschaft Münsterland (WGM), die in der Umgebung größere Bestände besitzt, zeigte Interesse, sich auch an innovativen Wohnformen zu versuchen. Der Wettbewerb, an dem sich anfangs 227 Architekten aus ganz Europa beteiligten, war 1998 abgeschlossen, der Bebauungsplan wurde 1999 beschlossen. Es gab ein Rechtsgutachten zur Sicherung der Autofreiheit und ein Mobilitätskonzept für die zukünftigen Bewohner und die Kursteilnehmer der Zivildienstschule. 1998 begann die Wohnbundberatung Bochum mit der Zusammenführung der zukünftigen Bewohner und ihrer Beteiligung am weiteren Realisierungsprozess.

-> Gegenwind

In den Kommunalwahlen vom September 1999 gewann die CDU die Ratsmehrheit zurück. Wenngleich man sich an geschlossene Verträge und Entscheidungen zu halten hatte, entzog man dem Projekt die aktive Unterstützung. Einige Ratsmitglieder unterstützten die Klage eines Nachbarn gegen den Bebauungsplan. Das Oberverwaltungsgericht NRW bestätigte in seinem Urteil vom 11. Januar 2002, dass eine Stadt auf Grund ihrer Planungshoheit das Recht hat, nach angemessener Abwägung Baugebiete mit einem bestimmten Charakter, also z.B. Villenviertel oder Gebiete ohne Auto auszuweisen. Als relevanten Gesichtspunkt der Abwägung nannte es die realistische Einschätzung eines ausreichenden Bedarfs, wie er bei der Größe und dem Charakter Münsters ohne weiteres gegeben sei. Es erklärte sodann, dass eine Stadt sich bei ihren Planungen grundsätzlich auf die Vertragstreue ihrer Bürger verlassen dürfe und daher keine Vorsorge für massenhaften Missbrauch zu treffen brauche. Die Festlegung im Bebauungsplan und die Absicherung durch privatrechtlichen Vertrag sah es als ausreichend an und bescheinigte dem Konzept Münsters zudem, dass es robust genug sei, um einzelne Missbräuche zu verkraften. Schließlich sei die Belastung der Nachbarn durch Verkehr bei einem traditionellen Wohngebiet auf jeden Fall wesentlich größer.

Diese günstige Entscheidung beendete allerdings die Widrigkeiten nicht. Während in der kritischen Realisierungsphase mit ihren unvermeidlichen größeren und kleineren Pannen und Verzögerungen Irritationen entstanden und Interessenten wieder absprangen, hatten auf der anderen Seite das Engagement und die Kooperation der Partner entschieden abgenommen: Die JUH hatte die Realisierung ihrer Neubauvorhaben auf unbestimmte Zeit verschoben, lediglich eine in der Planung nicht vorgesehene Tiefgarage errichtet und den Bestand renoviert. Da das Seniorenstift nicht gebaut wurde, entfielen nun auch die Gemeinschaftseinrichtungen, und statt sich zum Viertel hin zu öffnen wurden Zäune errichtet. Die CDU-Ratsmehrheit stellte kein Personal zur Begleitung mehr zur Verfügung, Arbeitskreise tagten nicht mehr, und Investor und Mieter sahen sich mit ihren Problemen weitgehend alleingelassen. Nur die Wohnbundberatung arbeitete weiter, bis die zweite große Gruppe Mieter 2003 eingezogen war, im letzten Jahr allein von der Wohnungsgesellschaft finanziert. Isolierte Wohnblöcke in einem noch völlig unbegrünten Umfeld und die Aussicht auf eine Großbaustelle für mindestens noch 2 Jahre straften die Werbung mit dem Begriff der "Gartensiedlung" und mit kinderfreundlicher Autofreiheit Lügen.

Das Viertel war ursprünglich als gemischtes Wohnquartier geplant worden, mit Sozialwohnungen für einkommensschwache Familien, frei finanzierten Mietwohnungen, Eigentumswohnungen und Reiheneigenheimen im Übergangsbereich zur benachbarten Bebauung. Allerdings stiegen die Grundstückspreise wegen eines unerwartet hohen Aufwands für die Reinigung kontaminierter Böden, auch zeigte sich die Gesellschaft wohl nicht sehr flexibel gegenüber den Wünschen von Kaufinteressenten, und so sind die Eigenheimgrundstücke noch immer unbebaut. Der veröffentlichten Meinung nach verhindert allein der autofreie Charakter die Eigentumsbildung, daher bezeichnen die Gegner das Projekt als gescheitert, auch wenn 80% der Bewohner bereits dort leben.

-> Die Wirklichkeit: Bewohner bilden eine lebendige Gemeinschaft

Als im Oktober 2001 die ersten 200 Bewohner, darunter viele junge Familien, in ihre 2 bis 5-Zimmerwohnungen einzogen, waren die Aussichten nicht ermutigend. Am Haupteingang stachen Garageneinfahrt, Drahtzäune und Abfallbehältern ins Auge. Der Begriff "Gartenstadt", von Marketingexperten ausgedacht, wurde durch den Baustellencharakter des Geländes (der älteren Kindern durchaus gefiel) ins Gegenteil verkehrt. Das einzige Grün waren schmale Rasenflächen hinter den Häusern, doch selbst hier dominierten die Maschendrahtzäune. Die recht simple, rechteckige Gebäudeform schien das Vorherrschen ökonomischer Erwägungen zu betonen.

Wie in fast allen neuen Vorhaben gab es kleinere und größere Mängel und Rückschläge. Um nur einen zu erwähnen: Treppen zu den Fahrradkellern waren so steil und eng, dass fast nur Athleten ein Fahrrad hinauf oder hinabtragen konnten, ganz zu schweigen von Kindersitzen oder Anhängern. Viele Familien mussten ihre Alltagsräder und Kinderwagen im Freien lassen, wo sie der Witterung ausgesetzt waren.

Allerdings nahmen sich unerschrockene Bewohner dieser Probleme an. Sie gründeten eine Bewohnerinitiative und setzten verschiedene Ausschüsse ein, deren wichtigster die Schiedsstelle ist, die über Ausnahmen von der Verpflichtung der Autofreiheit entscheiden kann. Sie organisierten Veranstaltungen, um die Leute zusammen zu bringen.

Als die zweite Gruppe Häuser gebaut wurde, wurden viele ihrer Verbesserungsvorschläge eingearbeitet.Die Wohngesellschaft stellte eine zentral gelegene Erdgeschosswohnung als Gemeinschaftszentrum zu ermäßigter Miete zur Verfügung. Die Bewohner nannten sie "Geistreich", eine Anspielung auf den Namen des umliegenden Stadtteils, "Geist", und die nahegelegene Hl. Geist-Kirche.

Läuft oder radelt man heute über die leicht gewundenen, autofreien Wege, bekommt man einen gänzlich anderen Eindruck als den der ersten Tage. Öffentliches und privates Grün und Bäume sind beträchlich gewachsen, "Gartenstadt" ist nicht mehr nur ein Marketing-Slogan. Die Balkone der oberen Stockwerke sind mit Blumen bepflanzt, die Erdgeschosswohnungen haben eigene Gärten, die sich fast alle zu Grünflächen und Spielplätzen hin öffnen. Der große zentrale Spielplatz und Erholungsbereich gegenüber dem Gemeinschaftszentrum wurde rechtzeitig zum Sommer 2004 fertiggestellt. Nachmittags spielen Kinder in Gärten und auf Spielplätzen, aber auch auf den Straßen, was den Autor an seine eigene Kindheit nach dem Krieg erinnert, in der Autos auf öffentlichen Straßen selten waren. Die Menschen, die man trifft, genießen ihr Leben hier und sind bereit, sich dafür einzusetzen.

-> Ausblick

Wenn der Einsatz der Bewohner so bleibt wie heute, scheint eine positive Zukunft sicher. Ich halte es für keinen Nachteil, dass die Bebauung noch nicht fertig gestellt ist. Neue Ideen haben so Zeit zu reifen, z.B. gemeinschaftliches Eigentum. Pläne zur verstärkten Nutzung von Solarenergie wurden entwickelt, um dem Viertel den zusätzlichen Titel einer "Solarsiedlung" zu verschaffen. Der Gemeinschaftsgeist mag Menschen anziehen, die sich nach Eigentumswohnungen umsehen, die hohen Preise von heute könnten morgen vertretbar erscheinen. Einrichtungen für Senioren werden verstärkt nachgefragt und Investoren werden sich zeigen, wenn sie einmal den Wohnwert des Viertels erkannt haben. Kinder füllen Kindergärten und Schulen, die Anwohner insgesamt sind eine wichtige Einkommensquelle der Geschäfte in der Nachbarschaft. Je mehr Anwohner an Gemeinschaftsveranstaltungen teilnehmen, desto schneller werden sich Vorurteile als haltlos erweisen, und die Siedlung wird zu einem integralen und bereichernden Teil des Stadtviertels und der gesamten Stadt werden.